Demokratie verkörpern – Spüren, was der Kopf (noch) nicht wissen kann

Sulzbrunn, 13.-15.9.2024 – Ein Workshop zu demokratischen Systemaufstellungen ermöglichte ungewöhnliche Perspektiven auf unser politisches System und seine Akteure. Unter Anleitung der Politikwissenschaftlerin Susanne Socher und des Psychologen Dr. Josef Merk vom Verein Mehr Demokratie e.V. erlebten die Teilnehmer*innen Demokratie körperlich erfahrbar und erspürten dabei Aspekte, die sich durch rein rationale Überlegungen nicht ohne weiteres erschließen.

Könnte es sein, …

  • dass politische Vertreter sich in unserer aktuellen Demokratie oft sehr unwohl fühlen und von Veränderung träumen?
  • dass die Menschen in Deutschland den Impuls haben, sich ihren seelischen Verwundungen bewusster zuzuwenden?
  • dass Veränderung und demokratische Weiterentwicklung erst möglich wird, wenn die Menschen dies tun?
  • dass die Natur und nichtmenschliche Welt in der Zukunft ihren Platz im Zentrum der Demokratie finden wird?

Möglichkeiten dieser Art zeigten sich mit Hilfe der Methode „verdeckter systemischer Aufstellungen“ und regten die Teilnehmenden zu intensiven Gedankenaustausch an. Die Methode stammt aus der systemischen Psychologie bzw. Soziologie und wird verwendet, um Einblicke in komplexe Strukturen wie Familien- oder Organisationssysteme zu gewinnen und erkennbar werden zu lassen, welche – oft unsichtbaren oder unbewussten – Faktoren diese Systeme beeinflussen und wie sie miteinander wechselwirken. Bei verdeckten systemischen Aufstellungen wissen die beteiligen Stellvertreter, die für bestimmte Aspekte aufgestellt werden, nicht, für welchen Aspekt sie stehen. Sobald sie den Aufstellungsraum betreten, folgen sie ausschließlich ihren Körperempfindungen und den damit verbundenen Impulsen, um einen Platz im Raum zu finden, der sich für sie gerade richtig „anfühlt“. Dann werden sie befragt, wie sie sich in ihrer dann eingenommenen jeweiligen Körperhaltung an diesem Platz fühlen und welche Aussagen ihnen in dabei in den Sinn kommen. Der Aufstellungsleiter oder die Beobachter können anschließend Fragen stellen, etwa „Wie fühlt sich Stellvertreter x in Bezug auf Stellvertreter y“ oder ähnliches. So ergeben sich interessante – und oft auch überraschende – Einblicke in tiefere Zusammenhänge.

Vielfalt der Werte als Brücke für Verständnis

In Vorbereitung auf das zentrale Anliegen der Workshop-Teilnehmer, Fragen zu Tendenzen der gesellschaftlichen Spaltung nachzugehen, stellte Josef Merk wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Forschung zur Bedeutung von Werten aus psychologischer Perspektive vor. In einer praktischen Übung dazu, dem sogenannte „Werte-Interview“ arbeitete jeder Teilnehmer im Zwiegespräch mit einem Gegenüber einen für ihn persönlich besonders wichtigen Wert heraus, der sein Verhalten oft maßgeblich leitet. Dabei zeigte sich bereits unter den Workshop-Teilnehmern eine überraschende Vielfalt an unterschiedlichen Werten, die die enorme Breite des Wertespektrums in einer größeren demokratischen Gesellschaft erahnen lässt. Als Nebeneffekt der Interview-Übung zeigte sich, wie das gegenseitige Befragen und damit offen gezeigte Interesse an den Werten der jeweils anderen Person die Stimmung ausgesprochen positiv beeinflusste und eine vertrauensvolle Atmosphäre schuf. „Sich aufrichtig für die Werte eines Menschen zu interessieren, kann eine wirkungsvolle Brücke sein, um Verständnis füreinander zu entwickeln“, brachte Josef Merk diese Erfahrung auf den Punkt.

Als aufschlussreich erwies sich in diesem Zusammenhang auch die Übertragung des Demokratiebegriffs auf das Innenleben der Teilnehmenden. In jedem Menschen existieren erfahrbar verschiedene innere Anteile und Stimmen, die oft im Konflikt stehen und um Kontrolle ringen. Diese inneren „Stimmen“ lassen sich als Metapher für die demokratischen Prozesse in einer Gesellschaft verstehen, in der unterschiedliche Interessen und Meinungen vertreten sind und in Einklang gebracht werden müssen. Da solche Prozesse in fast jeder Interaktion von Menschen wirksam und beobachtbar sind, wurde auch spontane persönliche und gruppendynamische Prozesse im Rahmen des Seminars als Spiegel für gesellschaftliche Dynamiken und unser Verhalten als Demokrat:innen verstanden und auf eine Metaebene beispielhaft analysiert.

Alte Verletzungen wirken nach

Hier zeigte sich unter anderem, wie stark persönliche erlebte alte Verletzungen zwischenmenschlich nachwirken und auch Einfluss auf ganz andere neue Kontexte nehmen. „Wie bei körperlichen Wunden zeigen Menschen auch bei emotionalen Wunden reflexhaft eine vergleichbare Reaktionsweise. Sie schützen ihre Wunde ganz automatisch, indem sie sich von der Person, die sie an dieser Stelle berührt, abwenden oder aktiv abgrenzen“ erklärt Josef Merk. „Das Problem ist dabei, dass emotionale Wunden nicht sichtbar sind. Und sie deshalb viel leichter „berührt“ werden können. Und wenn in der Situation nicht glasklar ist, dass es keine Absicht war, wird das Vertrauen zum Gegenüber leiden und die Beziehung davon negativ betroffen sein.“

„Ich bin überzeugt: Im Grunde passiert dasselbe Muster in der Gesellschaft“, folgert er. „Menschen tragen jeweils Wunden in sich, die von anderen nicht gesehen und – oft unabsichtlich – berührt werden. Der Israel-Palästina-Krieg, Corona-Maßnahmen, Migration, der Ukraine-Krieg: Diese Themen berühren viele emotionale Wunden, die teils auch transgenerationalen Ursprungs sind. Die Wunden sind so tief, dass schon ein einzelnes Wort verletzen kann. Ich habe keine schnelle Lösung für diese Herausforderung. Aber ich glaube, ein erster wichtiger Schritt ist, Polarisierung und Spaltung als Schutzreaktion zu verstehen.“


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Volksherrschaft“ vs. „Viele gestalten“ — Was ist die Wortbedeutung von Demokratie?

Im Unterschied zu der verbreiteten Übersetzung „Herrschaft des Volkes“ verweist Josef Merk auf sprachwissenschaftliche Forschungsarbeiten, die weitere Wortbedeutungen der Begriffe Demos (= die Vielen) und Kratie (= Gestalten) in den Fokus stellen. Demokratie können vor diesem Hintergrund möglicherweise zutreffender als die Kunst verstanden werden, wenn „Viele (gemeinsam) gestalten“ [J. Ober, 2008]. U.a. könne Natur in diesem Sinne als zutiefst demokratisch angesehen werden, weil hier verschiedenste Kräfte friedlich zusammenwirken.

Fragen, die sich aus einer solchen Betrachtungsweise ergeben, wären dann u.a.:
* Was braucht es, dass viele erfolgreich miteinander gestalten können?
* Reichen Wahlen aus oder braucht es einen kontinuierlichen Austausch unter den Beteiligten?
* Wie wird Macht demokratisch eingesetzt?
* Beschränkt sie den Einfluss der vielen Beteiligten oder ermöglicht sie Beteiligung?
*Wie werde ich zu einem Menschen, der sich aktiv beteiligen möchte?
* Was fördert meine Impulse, beitragen zu wollen?



Mehr erfahren:
Hintergrund zu Demokratischen Systemaufstellungen (Mehr Demokratie e.V.)

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